09.11.2001 * (FJH)
So hatte sich
Andreas Bethke
das deutsche Behinderten-Gleichstellungsgesetz nicht vorgestellt ! Der Vorsitzende des hessischen Landesbehindertenrates und Geschäftsführer des - in Marburg ansässigen -
Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf
(DVBS) fürchtet um die Zukunftschancen vom Menschen mit Sehbehinderungen. Buchstäblich "in letzter Minute" hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf am Mittwoch (7. November) im - für Blinde wichtigen - Paragraphen 11 abgeändert: Nun sollen Ministerien im Rahmen einer Rechtsverordnung entscheiden dürfen, welche amtlichen Informationen zu welchem Zeitpunkt nach welchem Standard welchen behinderten Menschen barrierefrei anzubieten sind. Dabei können technische, finanzielle und sogar verwaltungsorganisatorische Einwendungen geltend gemacht werden. Außerdem soll das gesamte Vorhaben nur noch schrittweise umgesetzt werden.
In der Fassung des - zuvor gültigen - Referentenentwurfs hatten behinderte Menschen einen klar formulierten Rechtsanspruch auf Barrierefreiheit der Informationsangebote von Bundesbehörden auf CD-Rom und im Internet. Standards, wie sie im September auch von der EU-Kommission akzeptiert wurden, waren einzuhalten.
"Das ist ein herber Rückschlag für uns," kommentierte Jens Bertrams am Freitagmittag die Kabinettsentscheidung. Der Sprecher des Marburger Vereins
Behinderte in Gesellschaft und Beruf
(BiGuB) e.V. kämpft seit dreieinhalb Jahren für ein "Barrierefreies Internet". Für ihn - wie für die Mehrzahl der gut 750.000 Bundesbürgerinnen und Bundesbürger mit erheblichen Sehbehinderungen - wird die ohnehin schon schwieriege Informationsbeschaffung damit zu einem Problem: "Barrierefreie Webseiten erlauben mir, mich genauso zu informieren wie alle anderen Menschen auch. Gedruckte Informationen kann ich ja leider nicht lesen."
Die neue Unabhängigkeit der Blinden, die sich Texte im Internet von sprechenden Computern vorlesen lassen oder sie mit Hilfe elektronischer Brailleschriftzeilen ertasten, droht nun wieder verlorenzugehen, wenn Grafiken und andere technische Spielereien die Informationen verstecken. "Häufig fehlt ja nur ein Erklärungstext unter einem Logo, das den Verweis zu weiteren Texten markiert", berichtet Bertrams. "Barrierefreies Web-Design muss gar nicht aufwendig sein."
Bei der Messe
Rehacare 2001
in Düsseldorf haben am 4. Oktober zwei Web-Designer die
Diabsite
mit mehr als 400 HTML-Seiten innerhalb von nur sechs Stunden barrierefrei umgestaltet. Die
Aktion Mensch
wollte damit zeigen, wie schnell auch umfangreiche Internet-Angebote barrierefrei werden können. Die Forderung nach barrierefreiem Zugang zu Internetseiten ist angesichts der modernen Informationsgesellschaft nicht überzogen.
Neben wichtigen Neuerungen für alle Behinderten enthält der Entwurf des Gleichstellungsgesetzes nur einen weiteren Punkt, der speziell Blinde betrifft: Paragraph 2.3 räumt ihnen bei Wahlen das Recht ein, mit Hilfe von Wahlschablonen selbstbestimmt wählen zu können. In Marburg ist das schon seit Jahren gute Praxis.
Wesentlich einschneidender wirken wird jedoch jede Einschränkung des rechts auf ungehinderten Zugang zur Information, meint Andreas Bethke: "Paragraph 11 ist einer der zukunftsorientiertesten Paragraphen. Da geht es um eine Zukunftstechnologie. Und gerade bei dem Paragraphen brechen sie so ein. Da muss wohl eine Furcht dahinterstehen, das sei mit großen Kosten verbunden.""
Diese Sorge ist nach Einschätzung beider Experten aber vollkommen unbegründet: "Wenn man schon bei der Konzeptionierung auf eine barrierefreie Gestaltung achtet, kostet sie keine müde Mark mehr", erklärt Bertrams. "Höchstens die Schulung der Progrrammierer könnte dann noch Kosten verursachen. Und bei den bereits vorhandenen Alt-Informationen muss sowieso eine ausreichende Übergangsfrist festgelegt werden."
BiGuB startet deswegen eine
virtuelle Unterschriftenaktion
und ruft zu
Protestmails an die Kabinetsmitglieder
auf.
Andreas Bethke möchte "mit den Politikern ins Gespräch kommen" und ihnen "demonstriren, dass das Ganze nicht so aufwendig ist." Der blinde Behindertenvertreter hofft, dass es gelingen wird, die ursprüngliche Fassung des Entwurfs im parlamentarischen Verfahren noch ins Gesetz zurückzuholen. Alles andere ist für uns nicht akzeptabel".
25.10.2001 *
Berauschend: Marburger Suchthilfetage
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