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Text von Donnerstag, 25. Januar 2007

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 Marx mit Markt: Gysis kluge Kapitalismus-Kritik 
 Marburg * (ule)
Es wurde wohl für alle ein unerwarteter Abend, als Gregor Gysi am Mittwoch (24. Januar) im Auditorium Maximum (AudiMax) der Philipps-Universität ans Pult trat. Das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren und Sozialabbau (ABSS) hatte den Links-Politiker zu einem Fachvortrag über Alternativen zum Kapitalismus eingeladen. "Ende der Geschichte? Über die Chancen eines modernen Sozialismus" lautete die Fragestellung.
Sascha Junker vom ABSS leitete die Veranstaltung gekonnt ein. "Geschichte ohne Ende? Wohin steuert die Wissensgesellschaft? Und was hat die politische Elite dazu zu sagen?", fragte der 24-jährige. Seit einigen Semestern studiert er Kommunikationsdesign in Marburg. Bei den Protesten gegen Studiengebühren war er von Anfang an dabei.
"Sie wollten so einen Vortrag von mir. Jetzt kriegen sie ihn auch", scherzte Gysi, als er ans Mikro trat. Dann holte er weit aus. Der sonst stets zu flotten Sprüchen aufgelegte Politiker hielt einen wissenschaftlichen Vortrag, der wohl manchen seiner Zuhörer erstaunte.
Es falle ihm wieder leichter, über Sozialismus zu sprechen, gestand Gysi. Vor zwei Wochen war er in Lateinamerika.
Dort hatte er die Gelegenheit, mit einigen Vertretern der dortigen Links-Regierungen zu sprechen.
Dass das neoliberale Projekt in diesen Ländern keine gesellschaftliche Legitimation mehr findet, freue ihn außerordentlich und mache ihm Hoffnungen. Doch zu glauben, der Kapitalismus gehe an seinen inneren Widersprüchen einfach so zugrunde, sei ahistorisch und falsch. Der Kapitalismus sei zwar nicht das Ende der Geschichte, aber er habe sich in den letzten Jahren als außerordentlich wandlungsfähig erwiesen und aus seinen Krisen immer wieder herausgefunden.
Gerade in den letzten 30 bis 35 Jahren habe der Kapitalismus eine Entwicklung zum Raubtier-Kapitalismus durchgemacht. Die Dominanz des Finanzkapitals über das Industriekapital sei ein wesentliches Merkmal dieses ausschließlich an Profit orientierten Wirtschaftssystems.
Dass sich dabei das Primat der Ökonomie über die Politik durchgesetzt habe, zeige sich daran, dass die entscheidenden Weichenstellungen von den politischen Akteuren vorgenommen wurden. Sie waren in den letzten drei Jahrzehnten den Gesetzen des Marktes gefolgt und hatten eine gewaltige Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Gang gesetzt.
"Der Kapitalismus erweist sich als katastrophale Ungerechtigkeit", resümierte der Fraktionsvorsitzende der Links-Fraktion im Deutschen Bundestag.
Doch es sei nicht nur der soziale Aspekt. Auch der ökologische Aspekt stelle die Frage nach einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung. Schon bei Karl Marx stehe, dass die Produktion der Stoffwechsel mit der Natur sei. Durch die ungehemmte Jagd nach Profiten und möglichst billiger Produktion sei der Kapitalismus gar nicht zu ökologischer Nachhaltigkeit imstande.
"Da die Grünen den Kapitalismus nicht angreifen, sind sie im Kern auch nicht ökologisch", rief Gysi empört seinen begeistert applaudierenden Zuhörern zu.
Nachdem er sehr ausführlich konstatiert hatte, warum der Kapitalismus seiner Meinung nach nicht das Ende der Geschichte sein könne und dürfe, stellte er die Frage nach der Alternative. Und an dieser Stelle brach er mit seiner hervorragend hergeleiteten Kapitalismus-Kritik.
"Ich glaube nicht, dass sich Märkte abschaffen lassen", erklärte Gysi. "Wir sollten es auch nicht tun, weil sich Märkte als außerordentlich effektiv erwiesen haben".
Damit umriss der Links-Politiker seine Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaft. Für ihn sei eine faire und chancengleiche Marktwirtschaft grundlegend.
Eine sozialistische Gesellschaft müsse daher auf demokratischem Wege entstehen aus der Mitte der Gesellschaft heraus, erklärte Gysi und dachte dabei wohl an die Entwicklungen in Lateinamerika.
Erst im letzten Satz lieferte Gysi die Antwort auf die vom Veranstalter gestellte Frage nach den Chancen des Sozialismus. Er machte deutlich, dass die Welt gar keine Wahl hat, wenn sie überleben will. Der Kapitalismus sei so zerstörerisch, dass der Sozialismus zur Überlebensfrage werde: "Ich hoffe, dass uns angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen noch genügend Zeit bleibt, den Sozialismus einzuführen", schloss Gysi.
 
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