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Text von Dienstag, 13. November 2007

> s o z i a l e s<
  
 Abgekartet: Ärzte signieren oder resignieren 
 Marburg * (fjh)
"Ein böses Nicht-Erwachen" prophezeite Thomas Maus den Patienten bei Einführung der elektronischen "Gesundheitskarte". Im Rahmen des "Interdisziplinären Seminars" (Isem) über "Mensch, Umwelt und Zukunft" sprach der IT-Sicherheitsexperte aus Karlsruhe am Montag (12. November) vor knapp 80 Interessierten im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität über "Risiken und Nebenwirkungen der Gesundheitskarte".
Bei der Einführung der "Elektronischen Gesundheitskarte" handelt es sich um eines der größten "PPP-Projekte" Deutschlands. Die Abkürzung "PPP" erklärte der Marburger Informatiker Prof. Dr. Wolfgang Hesse als Veranstalter aber nicht mit " Public-Private Partnership", sondern mit "Pleiten, Pech und Pannen".
Eigentlich hätte die "Gesundheitskarte" bereits seit dem 1. Januar 2006 ausgeteilt worden sein sollen. Doch bisher gebe es nur einige "Modell-Regionen", wo die Karte bereits auf freiwilliger Basis genutzt wird. Als Termin der Ausgabe werde nun der April 2008 angegeben. Doch die endgültige Einführung der "Telematik in der Gesundheitsversorgung" mit einer bundeseinheitlichen zentralen Krankenakten-Datei soll nunmehr erst im Jahr 2015 erfolgen, berichtete Maus.
Neben erheblichen technischen Schwierigkeiten stoße das Vorhaben auch auf massive Datenschutz- und Sicherheitsprobleme. Immerhin handelt es sich bei den Krankheitsdaten um die sensibelsten Daten, die von Menschen überhaupt existieren.
Aus Kostengründen soll das System - wie Maus berichtete - aber nicht einmal barrierefrei ausgestaltet werden. So hätten beispielsweise Blinde und Sehbehinderte erhebliche Schwierigkeiten, den Zugriff auf ihre Krankenakten in der geplanten zentralen Datei durch ihre persönliche Identifizierungs-Nummer (PIN) zu legitimieren. Ohne diese Eingabe soll der Zugriff auf die dort gespeicherten Krankendaten angeblich aber gar nicht möglich sein.
Ohnehin gehe das System von gesunden Teilnehmern aus, die problemlos in der Lage sind, ihre PIN selbst einzugeben. Bei Kranken sei diese Voraussetzung aber sehr häufig nicht gegeben.
Zudem habe es in den Modell-Regionen bisher oft Fehler beim Einlesen der Karten gegeben. Eine erste Karten-Generation habe in Ingolstadt deswegen mehrheitlich ersetzt werden müssen.
Derzeit gehe er von einer Fehler-Rate von vier Prozent aus. Diese Annahme stützt sich auf Erfahrungen in den bisherigen Modellprojekten.
Im Gegensatz zu anderen Datensystemen können fehlerhafte Lese- oder Schreibvorgänge in Elektronische Kranken-Akten aber zu erheblichen Folgen führen. Maus nannte die Folgen solcher fehlerhaften Ein- oder Angaben "E-Kunstfehler". Zu solchen "Kunstfehlern" sei es in anderen Ländern, wo bereits elektronische Systeme zur Kranken-Verwaltung existieren, auch bereits gekommen.
Maus berichtete von einem Fall aus den Vereinigten Staaten von Amerika (USA), wo falsche Angaben in der Datenbank einen Patienten beinahe das Leben gekostet hätten: Nur der Aufmerksamkeit einer Krankenschwester sei es zu verdanken gewesen, dass ihm abends kein Insulin gespritzt wurde. Sie hatte die Angabe im Computer angezweifelt, dass es sich bei diesem Patienten um einen Diabetiker gehandelt habe. Und damit habe sie letztlich Recht gehabt!
Doch neben möglicherweise tödlichen Auswirkungen fehlerhafter Angaben zeigte Maus auch noch weitere Probleme auf: Er warnte vor der Gefahr eines Identitäts-Klaus ebenso wie vor einer gezielten Falsch-Eingabe mit der Absicht, dem betreffenden Patienten vorsätzlich zu schaden.
Hinzu komme auch die unberechtigte Weitergabe sensibler Krankheitsdaten. Dergleichen habe in der Vergangenheit bereits auch in Deutschland stattgefunden. Maus erinnerte an die Weitergabe der Adressen von Diabetikern durch die allgemeinen Ortskrankenkassen Hessen (AOK) an die Online-Apotheke "Doc Morris" und eine ähnliche Aktion der Barmer.
In den USA seien in der Vergangenheit bereits einzelne Kranken-Akten aus Krankenhäusern verkauft worden. Ein einzelner Behandlungsvorgang sei dort mit mehr als 2.000 Dollar bezahlt worden. Allein diese Zahl hält Maus für einen guten Grund, beim Datenschutz äußerst misstrauisch zu sein.
Ohnehin führte er den Eifer bei der Einführung der Tele-Medizin im Wesentlichen auf die wirtschaftlichen Interessen zurück, die damit verknüpft sind. Während die Bundesregierung die Kosten der Einführung mit 1,5 Milliarden Euro angebe, hält der Karlsruher Experte einen Betrag von 47 Milliarden Euro für realistisch.
Diese Schätzung beruht zum einen auf einer Kosten-Nutzen-Analyse, die im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellt wurde. Zum anderen zog Maus dafür die Kosten hinzu, die eine Einführung vergleichbarer Systeme in Großbritannien und den USA verursacht hatte.
Bei der Studie im Auftrag der Bundesregierung sei eine Vielzahl von Kostenfaktoren gar nicht berücksichtigt worden, kritisierte Maus. Zudem sehe der Kosten-Ansatz für jede Arztpraxis nur einen einzigen und für jedes Krankenhaus nur drei voll ausgestattete Arbeitsplätze vor.
Alle vier Jahre müssten diese technischen Geräte erneuert werden. Diese Kosten müsse man zu den Betriebs- und Einführungskosten hinzuaddieren, meinte Maus. Und diese Kosten müssten entweder durch zusätzliche Beiträge der Versicherten aufgebracht oder bei den medizinischen Leistungen eingespart werden.
Nach alledem sieht Maus in der geplanten Maßnahme weder einen wirtschaftlichen, noch einen medizinischen oder gesellschaftlichen Nutzen. Die beteiligten Projekt-Manager neigten aber dazu, den Stand der Entwicklung und deren Kosten schön zu reden.
Dennoch habe sich die Ärzteschaft auf mehreren Kongressen inzwischen zu großen Teilen gegen die "Elektronische Gesundheitskarte" ausgesprochen. Seine ablehnende Haltung dazu bekundete auch ein anwesender Zahnarzt, der bereits die derzeitigen Abrechnungsstrukturen scharf kritisierte.
Eher unbeantwortet blieben indes die Fragen mehrerer Menschen im Publikum, wie man sich der "Elektronischen Gesundheitskarte" verweigern könne. Wer für eine ärztliche Behandlung auf die Kosten-Erstattung seiner Krankenkasse angewiesen ist, dem bleiben da wohl nur wenig Möglichkeiten. Einzig ein breiter politischer Protest könnte hier vielleicht wirken, hofften Maus und mehrere andere.
Für weitere Informationen dazu empfahl der Referent die Internet-Seite www.die-krankheitskarte.de. Sie stellt eine Online-Antwort auf die Lobhudel-Seite des Bundesgesundheitsministeriums unter www.die-gesundheitskarte.de dar.
Ursprünglich sei dort die "Elektronische Gesundheitskarte" mit dem Argument angepriesen worden, auf ihr seien auch alle wichtigen Notfall-Daten ihres Inhabers enthalten. Doch kein Arzt verlasse sich auf diese Angaben, meinte Maus. Das habe inzwischen auch das Bundesgesundheitsministerium eingesehen. Die Notfall-Daten verwende es nun nicht mehr zur Begründung seines Vorhabens.
Maus skizzierte in diesem Zusammenhang den Fall, dass ein bettlägeriger Patient eine andere Person mit seiner Karte zum Arzt schickt, um ein neues Rezept abzuholen. Schließlich kann der Arzt ohne Einstecken der Karte und anschließende Eingabe der PIN auch keine Rezepte ausstellen. Was geschähe nun aber, wenn der Bote mit der fremden Karte verunfallt?
Ohnehin sei das Ausstellen von Rezepten ein ernsthaftes Problem: Mit Einführung der Karte müsse jedes Medikament einzeln auf ein eigenes Rezept verordnet werden. Jedes einzelne Rezept müsse dann mit der elektronischen Unterschrift des Arztes beglaubigt werden. Dieser Vorgang alleine dauere bereits eine Minute!
Im Laufe eines Arbeitstages kämen in manchen Praxen locker zwei Stunden allein für die Signatur zusammen, rechnete Maus hoch. Diese Zeit gehe für die Behandlung der Patienten verloren. Maus meinte, die Ärzte könnten "entweder signieren oder resignieren".
Auch die Beglaubigung durch einen Fingerabdruck des Arztes, wie sie neuerdings diskutiert werde, könne dieses Problem nicht lösen. Einerseits sei es überaus leicht, Fingerabdrücke nachzumachen. Andererseits trügen viele Ärzte bei der Arbeit aus guten Gründen Gummi-Handschuhe, die sie erst ablegen müssten. Auch das koste Zeit.
Auch in der Apotheke entstünden durch die neue Regelung neue Probleme: Der Apotheker nehme heute normalerweise das Rezept mit zum Medikamenten-Schrank. Ein elektronisches Rezept aber verursache hier neue Fehlerquellen.
Ein Besucher argwöhnte zudem, elektronische Rezepte könnten auch zu einer elektronischen Verteilung der Medikamente über Online-Apotheken führen. In jedem Fall sah auch Maus die Beratung durch den Apotheker in Gefahr.
Ansonsten warnte Maus auch vor einer drohenden Verknüpfung der Kranken-Daten mit anderen Informationen beispielsweise über die Vorratsdatenspeicherung oder die Online-Durchsuchung. Ein polizeilicher Zugriff auf Kranken-Daten, wie er in Großbritannien ganz offen geplant werde, bedeute das Aus jeglichen Datenschutzes, meinte Maus.
Dem müsse jede Patientin und jeder Patient schon aus eigenem Interesse vehement entgegentreten. "Die ärztliche Schweigepflicht ist die älteste Datenschutz-Regelung der Menschheit", resümierte Maus. "Diese Kultur dürfen wir nicht aufgeben!"
 
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